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Anthologie

„Von der Zärtlichkeit des Übermorgen“

Hrsg. Marlies Eifert und Georg Grimm-Eifert

AF Verlag, 2007

ISBN 978-3-9810816-9-5

Rezension : Ulrike Stegemann

Wenn ich an die Zärtlichkeit des Übermorgen denke, kommen mir spontan all die Liebesgeschichten in den Sinn, die in unserer möglichen Zukunft spielen könnten. Aber wie viel Zeit werden wir im Übermorgen tatsächlich noch füreinander haben? Oder besser gesagt: Uns füreinander nehmen?

Ein Teil der Geschichten in dieser Anthologie stellt sich dieser Frage. Wieder andere erzählen von Zukunftsvisionen, die hauptsächlich auf weit entwickelter Technik oder Genmanipulation basieren. Einige lassen die Zärtlichkeit gar ganz außen vor und konzentrieren sich ausschließlich auf teils erschreckende Begebenheit im Übermorgen. Letzteres führt unweigerlich zu der Frage, ob wohlmöglich heute schon ein Teil der Zärtlichkeit verloren gegangen ist.

Wie auch immer man dieses Thema selbst angehen mag, geben diese Geschichten auf jeden Fall einen Denkanstoß für das Übermorgen. Die Herausgeber Marlies Eifert und Georg Grimm-Eifert legen mit „Die Zärtlichkeit des Übermorgen“ eine Sammlung von sehr unterschiedlichen Betrachtungsweisen vor.

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Nach einem Vorwort der Herausgeber erzählt Oliver Baron mit „Schokoladenkuchen“ die Eröffnungsgeschichte. Mitte des 21. Jahrhunderts lässt er seine Protagonistin Alice in einem Hochhauskomplex in Shanghai leben. Eingebettet in eine extrem technologische Welt ist sie nur noch ein untergeordnetes Wesen, dem das Wohl der Firma mehr zu bedeuten hat, als ihr eigenes. Da gilt ein selbst gebackener Schokoladenkuchen als kein Standardnahrungsmittel und wird schon beinahe als bedrohlich eingestuft. Doch macht diese simple Leckerei auch deutlich, wie sehr die Einfachheit in der technologischen Welt vermisst wird – und wie einsam man doch geworden ist. Eine gut und flüssig erzählte Eröffnungsgeschichte.

 

Jutta Döpfer hat mit „Ameisenfleiß und Spinnenliebe“ eine wahrhaft skurrile Geschichte ersponnen. Ihre Heldin Miriam teilt sich ihr Dasein mit der Vogelspinne Toni. Insekten, Spinnen und Ratten krabbeln durch die Weltgeschichte. Übernommen wurde das Regiment jedoch von den Kleinsten: Den Ameisen.

 

In „Streichelhändchen“ bringt Ursula Eggli uns ebenfalls eine ungewöhnliche Entwicklung nahe. Die Zärtlichkeiten werden den Menschen nur noch durch die titelgebenden Streichelhändchen geschenkt. In einer Zeit von Zellverjüngerungsspritzen und unzähligen neuen Wortschöpfungen kauft man sich das Mittel zur Streicheleinheit einfach im nächsten Laden.

 

„Expedition“ heißt schließlich die erste Geschichte der Herausgeberin Marlies Eifert in diesem Band. Hier finden wir Science Fiction, im Rahmen der Erkundung eines Planeten vor. Auf der Suche nach friedlichen Lebensformen tauchen rötlichen Scheiben auf, die sich vereinen und miteinander verschmelzen. Hier veranschaulicht die Autorin auf ungewöhnliche Weise, dass die Menschheit allgemein liebevoller miteinander umgehen muss.

In „Cleos neue Wege“ erzählt Marlies Eifert dann von einer Frau, die ihren verstorbenen Mann Hendrik durch einen Klon ersetzt. Dank Brainscreaming hält der Klon sich sogar für den echten Hendrik. Doch nur solange er die E-Mails von Cleo nicht gelesen hat. Eine interessante Art, sich die vergangene Zärtlichkeit mittels moderner Möglichkeiten zurück zu holen. Marlies Eifert stellt hier aber auch klar, dass es niemals dasselbe sein kann.

 

Rolf Eisel präsentiert mit „Der Aussichtsturm“ einen kurzen Text in poetischer Form. Ein Paar erinnert sich an frühere Zeiten, in denen der Turm noch nicht zerstört war. Das Schwelgen in zärtlicher Erinnerung soll zum Nachdenken anregen.

Mit „Das Versprechen des Übermorgen oder ‚Die Zeit’“ hält sich Rolf Eisel ebenfalls kurz. Der Erzähler (Ich-Form) bekommt überraschend Besuch, der ihn etwas über die Zeit lehrt. Am Ende steht die Hoffnung, dass ein Übermorgen mehr Zeit mit sich bringt.

 

Unter dem aussagekräftigen Titel „Ich liebe dich“ schreibt Arno Endler von der Kommunikation eines Paares per Chat. Die Menschen schließen befristete Partnerschaftsverträge ab. Im Laufe ihres Chats entdeckt dieses eine Paar jedoch, dass da tatsächlich Gefühle füreinander sind. Eine interessante Art, die Entdeckung der Zärtlichkeit zu beschreiben.

 

Antonia Fournier erzählt in „Auf den Hund gekommen“ viel mehr von dem Übermorgen als von der Zärtlichkeit. Männer in weißen Kitteln fangen die Menschen ein, um ihre Eigenschaften zu optimieren und sie somit effektiv in der Wirtschaft einzusetzen. Bizarr wirkt ebenfalls die Begebenheit, dass Hund Argüsschen seiner Familie folgt und sie durch einen Biss ins Bein einer der Männer rettet. Denn daraufhin läuft der Mann im weißen Kittel einfach aus und kann seine Arbeit nicht mehr verrichten. Die Grundidee mag nicht verkehrt sein, der Verlauf ist jedoch nicht ganz glaubhaft.

Auch mit der folgenden Geschichte „Lisas Abenteuer“ konnte mich Antonia Fournier nicht überzeugen. Das Mädchen Lisa kommt hier nach einem Unfall ins Krankenhaus und erhält aufmunternden Besuch von der Hexe Tilonia.

 

Mit „Das Gespenst von Canterville und die Weltraumkapsel“ schrieb Herausgeber Georg Grimm-Eifert die kürzestes Geschichte in dieser Anthologie. Ein Gespenst küsst eine Weltkraumkapsel. Dies allein zeugt von unterschwelligem Humor.

Weiter geht es in „Amouropp“ in Bericht-Form. Es geht um Verhaltensweisen, Marotten und die Erforschung von Konflikten. Die Frage, ob es ohne Marotten nicht langweilig wäre, sollte man sich wohl wirklich stellen.

 

In „Strom(-L)los“ von Katja Groß herrscht plötzliche Stille und Dunkelheit. Auf der einen Seite ein Ärgernis, verhilft es der Ich-Erzählerin doch auf der anderen Seite zur Überwindung ihrer Schüchternheit - und ist somit eine amüsante Idee.

 

„Kara“ von Nadine Ihle erzählt im Grunde genommen von einem Kinderwunsch. In ihrer Geschichte gibt es kaum noch Männer, da diese mit einem Virus infiziert sind. Neues Leben wird somit in einem Tank heran gezüchtet.

 

„Mein Waldspaziergang“ von Ingeborg Inden weist keine direkte Handlung auf, was ein wenig irritieren mag. Es geht tatsächlich nur um diesen Waldspaziergang im Jahre 2070 und die dadurch gewonnen Eindrücke.

 

Barbara Jung hat mit „Hier wie Dort“ eine der längsten Geschichten der Anthologie geschrieben. In einer Fantasy-Welt sind zwei Männer auf der Flucht, denn ihre Liebe zueinander ist verboten. Der Titel macht den weiteren Verlauf nicht überraschend. Man ahnt, was kommt. In der Kernaussage geht es hier um Frieden und Toleranz.

 

In „Billardpartie“ von Regina Károly ist nur eine sehr unterschwellige Zärtlichkeit zu entdecken. Die Autorin erzählt von Feinden, die ihre Freundschaft durch eine Partie Billard neu entdecken.

Wesentlich mehr überzeugte Regina Károly mich mit der Geschichte „Romeo und Julia 2212“. Am Anfang etwas verwirrend, avancierte sie für mich am Ende jedoch zu einer der schönsten Geschichten in dieser Anthologie. Zunächst ist hier jeder Mensch bzw. Klon für sich allein. Sämtliches Drumherum wird von Computern und Maschinen erledigt. Es gibt keinen persönlichen Kontakt untereinander. Bis EBA plötzlich Kontakt zu ABY aufnimmt.

 

Jürgen Landt verwirrte mich mit seiner Geschichte „die bank im sein“. Ein mögliches Übermorgen ist zwar zu erahnen, nicht jedoch die Zärtlichkeit. Kaninchen, Tabak, Sucht, Karfreitag, Kotkugeln und Computerviren werden hier auf sehr eigenartige Weise miteinander verknüpft.

 

Barbara Lorenz erzählt die anrührende Geschichte von „Tabaneas und Belemos Traum“. In einer Welt, in der Ruhestörer und alte Menschen verwünscht und ruhig gestellt werden, erlebt Tabanea die letzten Momente ihres Lebens.

 

In „Der Ohrwurm“ von Nele Mint hat es sich die Firma Ohrwurm zur Aufgabe gemacht, Geräusche einzufangen, um für jeden Mensch eine lebensnahe Kulisse zu erschaffen. Doch die Ich-Erzählerin will sich partout nicht von den Ideen eines Ohrwurm-Vertreters überzeugen lassen. Toll und mit Witz erzählt, allerdings vollkommen ohne Zärtlichkeit-Anzeichen.

Diese Zärtlichkeit bringt Nele Mint in ihrer folgenden Geschichte „November 2030“ besser ein. In einer vollkommen technisierten Welt erhellt ein schlichter Liebesbrief das Gemüt der Ich-Erzählerin.

 

Liane Mandt schreibt in „Trotzdem“ ganz offensichtlich über die Zärtlichkeit. Der Zusammenhang der Alltagssituation im Übermorgen hat sich mir nicht vollkommen erschlossen. Am Ende wird jedoch klar, dass es hier noch Zärtlichkeit gibt.

 

Regina Regling taucht mit „Eva“ in die Geschäftswelt ein. David soll sich um die Bewerbung eines neuen Produktes bemühen. Allerdings taucht statt des erwarteten Produktes eine umwerfende Frau bei ihm auf und bringt ihn gehörig durcheinander.

 

Jean Claude Rubin präsentiert in „Essay“ eine kritische Betrachtung unserer Welt und dem, was aus uns Menschen geworden ist. Er versucht zu ergründen, woran es liegt, dass uns die Zärtlichkeit fehlt.

 

In „Monster“ von Regina Schleheck verliebt sich Protagonistin Alene in einen Außerirdischen. Sie will ihm die Liebe näher bringen, die es unter seinesgleichen nicht gibt.

 

Silvie Schlechte gewährt in „Computerliebe“ einem Mann die Möglichkeit, sich über das Internet jede beliebige Traumfrau zu suchen, sie zu beobachten und mit ihr zu spielen. Seine wahren Sehnsüchte bleiben aber unverfüllt, denn die behält er für sich.

 

Adelheid Schmidt schreibt in „Grüne Augen – blaue Mohnblume“ von Gentechnik, Kunst und Mutterliebe. Nach der Scheidung wird eine Mutter von ihrer Tochter getrennt. Fortan zeichnet sie blaue Mohnblumen, was allem Anschein nach zu einem Wiedersehen führt.

 

In „Die Ironie der Zärtlichkeit“ von Elisabeth Seibert wird zunächst eine sehr verdrehte Auffassung von Zärtlichkeit dargestellt. Doch gegen Ende hin schwingt die Geschichte komplett um. Der Verlauf wirkt beinahe wie ein analytisches Selbstgespräch.

 

Jürgen Stein erzählt in „Das soll nie wieder vorkommen“ von einer Beziehung, die eigentlich schon vorbei ist. Der Mann sucht Bestätigung. Allerdings geht es hier schlichtweg um Dinge. Sämtliche Besitztümer sind kodiert – alles ist registriert und überwacht.

 

Manuela Führer und Florian Stummer schreiben in „Fixstern“ von einer Beziehung, die nur noch über E-Mail geführt wird. Petra und Heinz haben kaum noch Zeit für persönliche Begegnungen, da sie zu viel arbeiten. Über E-Mail verstehen sie sich schließlich permanent falsch, geraten in einen heftigen Streit und vertragen sich am Schluss ganz plötzlich wieder. Die Wut aufeinander klingt unheimlich schnell wieder ab, was die Szene für mich nicht ganz glaubhaft machte.

 

„Männerhass spricht zu Weiberhass“ von Franz v. Stockert ist ungewöhnlich und verwirrend. Es ist ein Dialog ohne Drumherum. Zwei Intelligenzen kommunizieren auf technischem Weg miteinander.

 

Dr. E. Therre-Staal beschreibt in „Der Wurm ist, was er isst“ die Entwicklung der Menschheit. Ein Bücherwurm frisst sich hier durch die Regale. Doch die Bücher schwinden. Das schnelle Papier hingegen bezeichnet er als Fast Food, das ihm nicht gut tut. Ein Anzeichen von Zärtlichkeit bleibt im Verlauf der Geschichte jedoch verborgen.

 

In „Andere Worte“ erzählt Andrea Tillmanns anhand einer Alltagssituation von der Kommunikation miteinander, an der es uns oft mangelt. Eine Tatsache, die zum Nachdenken anregt.

 

Andreas Dresen schreibt mit „Das erste Kind im Staate“ von einer Art geregelter Fortpflanzung. Per Gesetz wird geregelt, wann und wie man ein Kind bekommen soll. Es gibt sogar die Pflicht, Leben zu schenken bzw. zu zeugen.